Unter die Haut - der informelle Realismus von Judith Sturm
Dr. Holger Hettinger | Deutschland Radio Kultur - Berlin
Motive, so spielerisch, leicht und schwebend wie ein strahlender Sommertag am Meer: entspannt vornübergebeugt sitzt eine Frau scheinbar beiläufig da, ihr rot-weiß gestreiftes Sommerkleid scheint den Wind und die Sonne einzufangen; und obwohl die Figuren, die sommerliche Leichtigkeit und unbeschwerte Lebensfreude zu zelebrieren scheinen, kein Gesicht haben, stets als Torso dargestellt sind, wirken die Frauenfiguren auf Judith Sturms Bildern stets nahbar, offen und persönlich. Es ist der zweite Blick, der eine neue Perspektive auf die Vitalität der stets makellos geformten Körper eröffnet: die beinahe am Vorbild eines antiken Ideals modellierten Körperformen stehen dabei in einem spannungsreichen Kontrast zu einer aufgerauten, fast schon tektonisch modellierten Hautoberfläche. Dabei scheinen die Muster und Zeichnungen der Haut die ästhetische Perfektion der Körpermodellage nicht etwa zu durchkreuzen oder zu konterkarieren - vielmehr ergibt sich aus der kraftvollen Bezugnahme von perfektionierter Form und geheimnisvoll-verrätselter Oberfläche ein Resonanzraum, der die Vitalität von Judith Sturms Figuren so greifbar und so intensiv erscheinen lässt. Es ist dieser spannungsreiche Kontrast, der die assoziative Fortschreibung im Kopf des Betrachters so intensiv anregt: der Strand und das Meer, die Rufe der Möwen, die Wärme der Haut: Judith Sturm kreiert diesen Assoziationsraum sozusagen hinter der Leinwand, animiert ihre Körper-Motive zu einem imaginären Film im Kopf des Betrachters. Die wie freigestellt wirkenden Körper fordern regelrecht, ihre eigene Geschichte im Imaginationsraum des Betrachters erzählen zu dürfen.
Diese beiden korrespondierenden Formaspekte von idealtypischer Körpergestalt einerseits und tiefendimensionaler, mikroskulptural herausmodellierter Hautoberfläche andererseits finden ihre formale Entsprechung in dem Begriff des „informellen Realismus“, für den Judith Sturms Kunst exemplarisch steht. Ihre gegenständliche Bildanlage verortet sie fest im Formenkreis des Realismus; die klaren Konturen, das lebhafte, kecke Spiel von Licht und Schatten, die mit nazarenischer Akribie modellierten Körperoberflächen sowie die spannungsreichen Motivanschnitte machen ihre Gegenständlichkeit so überaus lebendig. Der fast vollständige Verzicht auf Hintergrunddessins verleiht ihren Figuren eine überzeitliche Losgelöstheit und Zeitlosigkeit; durch diesen Verzicht auf ein Bezugssystem scheinen die Figuren ganz bei sich selbst zu sein, der Beobachter wird Zeuge eines Moments tiefster Privatheit, Intimität und Intensität. Trotz des mitunter beträchtlichen Bildformats strahlen Judith Sturms Arbeiten eine betörende Privatheit aus, schaffen eine kammermusikalische Intimität, die den Betrachter in das Geschehen hineinzusaugen scheint. Gesten wirken vertraut und nahbar. Die kontrastierende Tiefenspannung, die durch Judith Sturms extrem aufwendigen Prozess der Oberflächenbearbeitung entsteht, verweist auf das Prozesshafte ihrer künstlerischen Vorgehensweise und koppelt zurück auf eine Kunstausprägung, die der französische Theoretiker Michel Tapié im Jahr 1951 als Sammelbegriff für ein künstlerisches Schaffen definiert hatte, das weniger durch seine strengen Formgesetze als vielmehr durch seine Haltung zum künstlerischen Gegenstand bestimmt war: unter dem Oberbegriff „art informel“ fasste Tapié die unterschiedlichsten Strömungen zusammen, die durch die Betonung des Fließenden, Prozesshaften, Impulsiven und Dynamischen die künstlerischen Energieflüsse sichtbar und erfahrbar machen. Der Künstler produziert nicht mehr auf ein formal vorausgeplantes und durchstrukturiertes Ergebnis hin, sondern fokussiert die Energie des Malvorgangs selbst als gestaltgebenden Teil des künstlerischen Prozesses. Dies korrespondiert mit Judith Sturms extrem aufwendiger, akribischer Aufbereitung des Malgrundes und dem mit mikroskopischer Präzision gestalteten Farbauftrag. Das Inkarnat, in der kunsthistorischen Entwicklungslinie meist auf die „Hautfarbe“ und damit auf ein koloristisches Detail verkürzt, bekommt bei Judith Sturm eine fast schon erzählerische, dramaturgische Bedeutung. Strukturen wie Salzkristalle, molekulare Mikroformen, ausdrucksvoll modellierte, rhythmisierte Strukturen wirken belebend und schaffen ihre ganz eigene Erzählung, und künden gleichzeitig von einem Geheimnis, das die Figuren mit dem Betrachter zu teilen scheinen.
Was in der Gesamtwahrnehmung als apartes Spannungsfeld zwischen Realismus und Eruption sowie als vieldimensionales ästhetisches Erlebnis wirkt, erhält in der Nahsicht eine weitere, faszinierende Dimension: nähert man sich Judith Sturms Gemälden, so fächert sich die Zweidimensionalität der Leinwandoberfläche auf und offenbart je nach Betrachtungswinkel und -abstand eine lebhaft strukturierte Landschaft en miniature, dreidimensional durchgeformt und plastisch gestaltet. Die Körperoberfläche wirkt dadurch besonders greifbar und mitteilsam - so, als würden die kopflosen Körper durch ihre Haut sprechen, erzählen, plaudern, schreien wollen. So wie Salzkristalle unter dem Mikroskop faszinierende, nach verborgenen Ordnungskriterien rhythmisierte Strukturen von hohem ästhetischen Reiz ausbilden, so manifestiert sich in der Hautdarstellung auf den Gemälden von Judith Sturm eine hochkomplexe, vielstimmige und hintergründige Kartografie des Inneren. Anders als bei den Vertretern der „art informel“ hat Judith Sturms künstlerische Vorgehensweise nicht dem Impuls des Zufälligen und Erratischen, sondern teilt sich durch seine akribische Anlage und seine ästhetisch bestechende Formorganisation mit, so dass die Oberfläche eben nicht gestaltet, sondern geradezu durchwirkt erscheint. Die Figuren scheinen lebendig zu sein, von innen heraus zu leuchten. Assoziationen mit den virtuosen, hochpräzisen, kleinteiligen und extrem aufwendigen Werktechniken des historischen Kupferstichs stellen sich ein: Judith Sturm tätowiert die Leinwand gleichsam mit ihren Körperlandschaften, die auf diese Weise ihre Innerlichkeit nach außen kehren, ohne vordergründig oder eindimensional zu sein. Die Prozesstransparenz und Dynamik, aber auch das Spontane und Eruptive des „informel“ entwickelt Judith Sturm mit ihrer motivischen Präzision, ihrer handwerklichen Virtuosität und ihrem untrüglichen Gespür für Proportionen und Bildwirkungen zu einer ganz neuen, hochintensiven Ausdrucksform, die Aspekte der suggestiven Gegenständlichkeit - Realismus - einerseits und der verborgenen Kräftelinien andererseits - informel - zu einem ganz neuen Genre zusammenbringt: zum informellen Realismus.
Diese Betrachtungsweise mit dem Fokus auf die konstruktive Virtuosität der Bildanlage von Judith Sturm unterschlägt allerdings, wieviel malerische Süffigkeit, wieviel Kolorit, wieviel vibrierender Schwung in der Malweise von Judith Sturm doch steckt. Aus ihrer zeichnerischen Präzision und ihrer akribischen Raumorganisation heraus gelingen ihr Bilder, die in ihrer lässigen Beiläufigkeit die Fesseln der Konstruktion zu überwinden scheinen. Stets elegant und am klassischen Proportionenkanon orientiert, organisiert sie die Zwiesprache von Kopf und Herz, von improvisatorischer Leichtigkeit und akribischer Bildarchitektur mit einem Esprit und einem Charme, der das Spannungsfeld zwischen Motivarchitektur und Prozessinformation nicht nur überwindet, sondern harmonisch in sich vereint: im informellen Realismus berühren sich zwei existenzielle Lebensbereiche, bespiegeln sich gegenseitig, ergänzen sich.So attraktiv und ästhetisch die Kunst von Judith Sturm auch anmuten mag, so sehr verschließt sie sich vorschnellen inhaltlichen Deutungen und Zuordnungen. Nichts ist eindeutig, nichts erschließt sich spontan. Vielmehr ist die Auseinandersetzung mit Judith Sturms Werken eine lange, abwechslungsreiche, mitunter auch sehr fordernde Reise - so, als würde man sich durch eine Landschaft bewegen, die sich ständig verändert, und die durch Licht- und Witterungsveränderungen zusätzliche Intensivierungen und Akzentuierungen erfährt. Ihre durchschlagende Wirkung und ihre suggestive Energie beziehen die Werke aus einem pulsierenden Spannungsfeld von ästhetischen Reizen, vielsagenden Details, assoziationsreichen Weglassungen und bezwingender Energie. Für den Betrachter wird ein ganzer Kosmos aus Zugewandtheit und Distanz, aus Attraktion und Irritation entworfen; die Werke führen uns mit sicherem Pinselstrich in Unter- und Nebenwelten des Wunsches und der Begierden. So sehr die Figuren in kontemplativer Stille und klassischer Schönheit zu ruhen scheinen, so vibrierend teilt sich die Energie mit, die Judith Sturm in die Leinwand geradezu hineintätowiert. Vitalität und Ruhe, Beiläufigkeit und Wucht, meditative Versunkenheit und kraftvolle Irritation: der informelle Realismus von Judith Sturm geht unter die Haut.
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