Einführung in die Ausstellung “Insight vs. Outlook“
von Judith Sturm und Yi Lü
(anlässlich der Vernissage im YN Art Institut Hangzhou und im John-Rabe-Saal des Generalkonsulats der Bundesrepublik Deutschland in Shanghai)
Prof. Dr. Barbara Freifrau von der Lühe | Professorin für Medienwissenschaften am Institut für Deutschstudien der Zhejiang Universität Hangzhou | China und am Institut für Sprache und Kommunikation der TU Berlin | Deutschland | freischaffende Journalistin | Autorin.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
wir haben heute Abend die Ehre und das Vergnügen zwei begabte junge Künstler aus Deutschland und China zu präsentieren – Judith Sturm und Yi Lü.
Als Meisterschüler des deutschen Documenta-Künstlers Prof. Bodo Baumgarten teilten sie fruchtvolle Diskussionen und ein inspirierendes Studium an der Saarbrückener Kunsthochschule.Beide Künstler stimulieren Kontroversität in ihren Interpretationen und teilen eine enge Beziehung zur menschlichen Natur.Die offensichtlichste Ähnlichkeit zwischen den Arbeiten der beiden Künstlern sind die abgebildeten Personen: Spärlich bekleidete Menschen werden in sehr privaten Momenten dargestellt. Für beide Maler bedeutet Nacktheit Schwäche und Isolation in der heutigen Gesellschaft.Beide benutzen die Kamera, um Informationen zu sammeln und kreieren ein photorealistisches Bild der Menschen. In ihrer Arbeit jedoch scheint Veränderung und Bewegung in der Zeit eingefroren zu sein.
Genauso wie es Gemeinsamkeiten gibt, existieren auch klar erkennbare Unterschiede. Es sind also zwei gegensätzliche Techniken, die eine große Vielfalt schaffen:
Judith Sturm, die Acrylfarbe und Ölfarbe verwendet, nutzt die Fähigkeit des Mediums, sich mit vielen verschiedenen Oberflächen zu verbinden, indem sie das Aussehen von Härte und Flexibilität der Textur verändert - sie arbeitet sogar Salz in das Kunstwerk ein, um der menschlichen Haut einen besonderen Ausdruck zu verleihen. Yi Lü hingegen verwendet Ölmalerei - mit verblüffenden Effekten von Gefühlen.
Diese Unterschiede ergeben sich auch, wenn wir die Art und Weise betrachten, wie diese Gefühle und Ideen vermittelt werden. Untersuchen wir also auch die unterschiedliche Herangehensweise an ihre Werke, ihren Fokus und ihr Thema.
Judith Sturm zeigt detaillierte Darstellungen von weiblichen Modellen, die mit psychologischen und sexuellen Inhalten durchsetzt sind. Ihr Stil erinnert an den Verismus, die künstlerische Vorliebe für zeitgenössische Alltagssujets. Sie ist fasziniert von Themen aus der populären Massenkultur, wie Werbung und alltägliche kulturelle Objekte.
Judith Sturm spielt mit all den emotionalen Assoziationen, die mit Fetischmode wie Stöckelschuhen, Unterwäsche, Minirock und Höschen verbunden sind. In den modernen Medien werden Bilder von teilweiser und vollständiger Nacktheit in der Werbung verwendet, um zusätzliche Aufmerksamkeit zu erregen. Der Sexappeal ist zum wichtigsten Verkaufsargument geworden. Darüber hinaus ist der Aspekt jeder einzelnen Frauenfigur in Sturms Gemälden als philosophisches Medium gedacht. Sie begann das Angebot mit der Motivation, dass wir "allein" eine Ebene des spirituellen Verständnisses erreichen müssen.
In Judiths Sturms Bildern sind die Frauen zu Objekten reduziert worden, ohne Gesichter, ohne Individualität. Gibt es erotische Konnotationen? Oder können wir ihre Einsamkeit in der modernen Gesellschaft fühlen?
Yi Lü dagegen zeigt Gruppen oder Einzelne am Strand. Die Menschen in seinen Bildern haben Gesichter; Sie scheinen über ihr Schicksaal in einem inneren Monolog nachzusinnen. In diesem Sinne sind Yi Lüs Bilder individueller. Aber der Maler beschreibt auch die ‚Landschaft der Einsamkeit’: Es ist eine Montage von isolierten Menschen im Kontrast zu dem weiten Blick auf die Ostsee. Seine Bilder reflektieren seine eigene Einsamkeit in dieser Umgebung.In Yi Lüs Bildern wird der Betrachter augenblicklich ins Meer gezogen – an die Küste von Norddeutschland. Hier, auf der Insel Rügen, hat er sein Paradies gefunden. So wie Gauguin vor über hundert Jahren sein Paradies auf einer tropischen Insel im Pazifik entdeckt hat. Tropische märchenhafte Insel Rügen – für mich als Deutsche eine große Überraschung!Aber untersuchen wir doch Yi Lüs Interpretation ein bisschen weiter. Wenn wir den Spuren seiner Vision folgen, stoßen wir auf zwei Künstler, die der Natur und der Einsamkeit der Menschen verpflichtet waren.Zuerst ist Eugène Henri Paul Gauguin zu nennen, ein führender post-impressionistischer Maler. Seine mutigen und unverfrorenen Farbexperimente führten geradewegs zu dem synthetischen Stil der modernen Kunst. Wir können diese starken Farben auch in Yi Lüs Bildern finden: Blau, Rot und Gelb. Als Gauguin 1891 nach Tahiti fuhr, suchte er eine elementarere und einfachere Gesellschaft als die seiner Heimat Frankreich. Er malte die fast nackten Frauen und Mädchen auf der von Frankreich so weit entfernten Insel. Dort, in dem Dorf Mataiea auf Tahiti, entstand auch sein Meisterwerk ‚Woher kommen wir?’. Diese Fragestellung ist auch ein ‚Leitmotiv’ in Yi Lüs Arbeit. Yi Lü findet seine elementare und unverfälschte Gesellschaft auf Rügen. Ihn fasziniert der entspannte Lebensstil der normalen Leute. Und natürlich auch die Nacktheit an den Stränden: Es gibt dort viele FKK-Strände. In Skandinavien mit seiner Saunakultur ist nackt schwimmen eine akzeptierte Tradition. Auch in Deutschland haben die Menschen Freude an öffentlicher Nacktheit in einem nicht-sexuellen Kontext.
Nacktheit in der Kunst reflektiert generell – mit einigen Ausnahmen – soziale Standards der Ästhetik und Moral der jeweiligen Zeit.In Anbetracht dieser vielseitigen Faktoren geht Yi Lü über eine reine Beschreibung hinaus, um Unterschiede in der Darstellung von nackten Menschen interkulturell auszuleuchten.Wenn wir an Rügen denken, erinnern wir natürlich an den deutschen Maler Caspar David Friedrich: Sein berühmtes Ölbild ‚Kreidefelsen auf Rügen’ (1818/19) offenbarte eine neue Wahrnehmung der Natur.Er strebte danach, nicht einfach nur - wie in den klassischen Konzepten - die Freude an einem schönen Blick darzustellen, sondern einen Moment der Erhabenheit festzuhalten, eine Wiedervereinigung mit dem spirituellen Selbst durch die Betrachtung der Natur. Friedrichs Leben und Kunst sind von einem tiefen Gefühl der Einsamkeit beseelt – er fand diese Abgeschiedenheit in der unendlichen Weite der Ostsee. Chinesische Landschaftsmaler ersehnen nicht das Meer oder die einsamen Inseln – ihre Sehnsucht nach dem Paradies konzentriert sich auf die sakralen Berge und heiligen Flüsse. Ihre Bilder beschreiben das westliche Paradies des Amida Buddha mit seinen edelsteinbesetzten Türmen, kristallklaren Seen und blühenden Bäumen. Aber Yie Lüs Studium und Erlebnisse in Deutschland haben ihm zu einem anderem Bewusstsein verholfen, das Konzepte von chinesischer und westlicher Kunst in sich vereint.
Und so fand er seinen Weg aus China zu einem Paradies im Westen – der deutschen Insel Rügen.
Jetzt liegt es an Ihnen, Ihr Paradies zu finden! Genießen Sie die Ausstellung!
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